Pyramiden, Mumien, ein Sonnengott und Hinweise auf einen frühen Monotheismus - die Rede ist nicht von Ägypten, sondern von den Guanchen. Bei der Unterwerfung dieses auf den kanarischen Inseln beheimateten Volkes durch die Spanier Ende des 15. Jahrhunderts zeichneten die Chronisten der Eroberer ein Bild der Eingeborenen auf, das uns wichtige Rückschlüsse auf den Steinzeitglauben Europas vermittelt.
Unzweifelhaft hat sich der Mensch bereits in frühester Zeit Gedanken über das Leben und den Tod gemacht. Was geschah mit verstorbenen Freunden und Verwandten? Wer gab meinem Vorfahren die Herrschaft über das Feuer und was genau ist das Feuer? Diese Fragen führten bereits in frühester Zeit zur Entstehung religiöser Vorstellungen - insbesondere zum Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode und zur Verehrung von „Göttern“. Zu Beginn dürfte vor allem dem Feuer als Spender von Wärme und Licht sowie als Hilfsmittel zur Zubereitung von Speisen göttliche Verehrung zuteil geworden sein. Bei den Indoariern finden wir in dieser Gestalt die Gottheit Agni, die der bedeutende Forscher Ernst Krause als eine der frühesten Göttermanifestationen einstufte. Ebenso war es früh Brauch, Götter um Beistand bei der Jagd zu bitten. Europäische Höhlenmalereien aus der Zeit um 20 000 v. Zw. zeigen erstmals schamanische Figuren, die als „Priester“ gedeutet werden, denen die Funktion der Götteranrufung und Vermittlung zwischen der menschlichen und göttlichen Ebene oblag.
Aus der Beobachtung der Lebensentstehung beim Menschen gesellte sich ebenfalls sehr früh die Verehrung des weiblichen Gebärprozesses - zumeist dargstellt in Form der sogenannten Venusstatuen - und nach Erkenntnis der männlichen Rolle bei diesem Akt - auch des männlichen Zeugunsorgans hinzu. Letztere findet sich vor allem in Form von Statuen oder Felsmalerein mit erigierten Gliedern.
Im nordeuropäischen Raum, der bedingt durch seine geographische Lage insbesondere während der Eiszeiten mit einer langen Abwesenheit der Sonne fertig werden mußte, entstand dann irgendwann eine Verehrung der Sonne als Lebensspenderin schlechthin. Folgerichtig wurde die Sonne als weiblich verstanden. Doch was geschah mit der Sonne in der Nacht und in der Winterzeit, in der sie im äußersten Norden für längere Zeit gar nicht wieder erschein? Die logische Schlußfolgerung: Irgendein Dämon, eine dem Menschen feindliche gesonnene Macht, hielt sie gefangen. Und die Wiederkehr nach einer gewissen Zeit, konnte nur bedeuten, daß sie irgendjemand befreit haben mußte - diese Überlegung war die Geburtsstunde des Sonnenbringer-Gottes, die ein wichtiges Element für Jahrtausende darstellen sollte.
Auch innerhalb der megalithischen Kulturen finden sich Elemente dieser Glaubensvorstellungen: Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod, die Verehrung einer weiblichen Urmutter als Symbol der Lebensgebärerin - als bearbeitete Menhire („Dolmengöttin“) mit Attributen der Muttergottheit und als Steinkreis, und der Lebenserzeuger - dargestellt als einfacher Menhir. Die Kombination des männlichen Attributes - dem Menhir - mit dem weiblichen durch eine kreisrunde Anordnung („Auffangbecken“), birgt also bereits den Dualismus der zwei Prinzipien - dem Zeugungs- und dem Empfangselement - als Vater und Mutter.
Dieser Interpretation zufolge, muß das vereinzelt zur Verdeutlichung mit Frauenantlitz geschmückte Megalithgrab als die „Mutterhöhle“ (Herman Wirth) betrachtet werden, in die alles Leben - versinnbildlicht durch die Sonne - eingeht, um in ihr neu geboren zu werden. Für die Sonne wird dieser Vorgang mit der doppelten Spirale dargestellt, die den Sonnenlauf verkörpert. In der Mitte der Doppelspirale befindet sich das hypothetische „Muttergrab“, später als Trojaburg hzw. Labyrinth dargestellt, in der sich die Sonne erneuert und auf ihre anderslaufende Bahn begibt. Das oft als Felszeichnung erscheinende Beil symbolisiert dabei die Jahresteilung, die das Beil tragende Sonnengottheit ist daher eigentlich eine Sonnenbringergottheit, welche der Sonne zur Neugeburt verhilft, diese gleichsam aus ihrer „Mutterhöhle“ befreit. Die Besonderheit der Großsteingräber-Religion ist jedoch der Erneuerungsgedanke der Seele. Dieser manifestiert sich in frühester Zeit durch den Seelenvogel, in den die Seele des im Freien aufgebahrten Leichnams (eine bis in die heutige Zeit noch bei den asiatischen Nachfahren der Indogermanen geübte Praxis!) übergeht und der als Ruheplatz den Menhir findet. In späterer Zeit entfällt der beigeordnete Menhir und es werden Seelenlöcher im Grab eingebaut - oft als Spalt oder kreisrundes („Seelen“-) Loch. Diese vor allem bei den Steinkisten seit der Mitte des 3. Jahrtausends erscheinenden Seelenlöcher (z.B. Steinkistengrab Fritzlar) könnten auf einen Wandel hindeuten, mit dem die Toten nicht mehr vor der Bestattung im Freien aufgebahrt wurden, was wiederum eine Folge größerer Bevölkerungszunahme oder von Kriegen sein könnte (Infektionsgefahr in dichtbesiedelten Gebieten oder bei einer großen Zahl von Toten!). Mit der Vorstellung der Wanderung der Seele aus dem Toten, über das Seelentier (z.B. Vogel), in einen Nachfahren der Sippe, tritt erstmals das alte „Stirb und Werde“ ans Licht, das noch bis in die spätgermanische Zeit hinein nachhallt.
Parallelen zwischen westeuropäischer Megalithik und Skandinavien
Die megalithische Beilgottheit indes findet ihre Parallelen in skandinavischen Felszeichnungen, in denen sie neben Schwert und Lanzengottheiten auftritt. Der dahinter stehende Glaube ist derselbe: Stets läßt sich eine Beziehung zum Blitzhammer schwingenden Himmels- und späteren Donnergott ziehen. Innerhalb zahlreicher Großsteingräber fanden sich auch kleine Stein- oder Bernsteinbeile bzw. -Hämmer die als Sinnbilder des Himmels- und Sonnengottes galten.
Eine weitere Parallele zwischen Großsteingräbern und skandinavischen Felszeichnungen findet sich in der Darstellung einer Fußsohle, vereinzelt auch eines Fußsohlenpaares, dessen Bedeutung bislang nicht bekannt ist. Jedenfalls könnten diese Übereinstimmungen auf eine zeitgleiche Verwendung hinweisen, die bislang unter Verweis auf die für die Bronzezeit angesetzte Entstehung der Zeichnungen abgelehnt wird, obgleich es auch Stimmen gibt, welche die ältesten Zeichnungen als jungsteinzeitlich einstufen.
Während das parallele Auftreten von Mutter- und Vatergottheit aufgrund einiger bislang spärlich auftretender altsteinzeitlicher männlicher Figuren für frühere Zeiten nicht ausgeschlossen werden kann, erscheint als eigentlich revolutionäres Element der Megalithreligion das monotheistische Grundgerüst, das sich aus dem Vergleich mit der Religion der Guanchen erschließen läßt.
Die Religion der Guanchen als Spiegelbild des alteuropäischen Megalithglaubens
Als die Spanier ende des 15. Jahrhunderts die Inselgruppe der Kanaren nach fast 30-jahre währenden Kämpfen eroberten, löschten sie fast die gesamte Kultur der eingeborenen Guanchen aus. Chronisten der Eroberer hielten jedoch viele Details zu diesem noch auf Steinzeitniveau lebenden Volksstamm fest. So kannten die vermutlich zwischen dem 5. und 3. vorchristlichen Jahrtausend auf die Inseln gelangten hellhäutigen und oft blonden Seefahrer weder Metall noch Räder, dafür waren ihre sozialen und religiösen Sitten um so bemerkenswerter. Die Frau genoß in der Gesellschaft ein hohes Ansehen. Wie Prof. Harald Braem, profunder Kenner der Kanaren, schreibt, gab es auf allen kanarischen Inseln weise Heilfrauen, Seherinnen und Priesterinnen und die spanischen Chronisten berichten sogar von Kriegerinnen, die sich an den Kampfhandlungen gegen die Spanier beteiligten. Ein weiterer Guanchen-Experte, Dominik Wölfel, verglich die weisen Frauen, die auch Entscheidungen über Krieg und Frieden beeinflußten, mit den altnorischen Walas, die oft gegen den Willen des Königs die Geschicke eines Stammes lenken konnten.
Die Frau hatte auch Einfluß auf die medizinische Behandlung von Krankheiten, die mit Hilfe heute noch verwendeter Heilpflanzen und Kräuter Anwendung fand. Auch chirurgische Eingriffe wie Schädeltrepanationen sind dokumentiert. Eine weitere Besonderheit der Guanchen ist die Mumifizierung von Verstorbenen, deren Technik einen urtümlicheren Charakter als die der ägyptischen oder südamerikanischen Mumifizierungen aufwies.
Diese hohe Stellung der Frau spiegelte sich auch in den Glaubensvorstellungen der Guanchen wider. So verehrten sie eine Urmutter - Moneiba - und einen männlich gedachten Urvater - Eraorahan. Das besondere aber ist, daß diese beiden dualistischen Gottheiten einer obersten Hauptgottheit - Abora - entsprangen, die das Gute schlechthin verkörperte und vermutlich geschlechtslos begriffen wurde. Dieser guten Kraft stand wiederum eine negative Kraft gegenüber, die sich als Guayote in Form eines Hundes manifestierte der „aus dem Vulkan stammte“. Abora wurde überwiegend mit der Sonne assoziiert, die das Gute, also das Wachstum, die Wärme und das Licht verkörperte. Die Urmutter erscheint dagegen als Skulptur mit dem Namen Tara, der sich auch bei anderen Kulturen findet: Als „Os-Tara“ bei den Germanen, als „Ish-Tar“ bei Babyloniern, eventuell auch Vorlage für die griechische Hera, Göttin der ehelichen Fruchtbarkeit und Verkörperin der (weiblichen) Herrschaft. Sie war eine Tochter von Kronos und Rhea, die als Ureltern den Guanchen Moneiba und Eraorahan entsprechen dürften.
Wir finden neben der monotheistischen Grundanlage der Guanchen-Religion auch weitere Elemente, die uns sowohl bei den Meglithikern als auch späteren indogermanischen Völkern begegnen: Die Ehrfurcht vor der Natur und die „Imagisation“ heiliger Orte. So wurden Menhire als Seelensteine verehrt und Speiseopfer auf ihnen deponiert. Die Seelen der Ahnen wurde auch als (Seelen-)Vögel begriffen, die diese Speiseopfer verzehrten. Dieses ist ein Grundgedanke, der sich entlang der megalithischen Kulturen bis hin zum Großkopf-Kult der Osterinseln beobachten läßt. Neben künstlich angefertigten Menhiren wurden auch natürliche Felsformationen in diesen Kult einbezogen, die teilweise nachbearbeitet wurden und denen insbesondere Augen- und Mundöffnungen hinzugefügt wurden. Diese deutet Harald Braem - analog zu Elsisabeth Neumann-Gundrums Erklärungsansatz für die (altsteinzeitlichen?) Großsteinskulpturen Europas - als Ein- und Austrittsöffnungen des seelenverkörpernden Atems deutet.
Auffällig sind auch frühe Grab- und Kultstätten, wie sie in Güimar / Teneriffa und anderenorts vorkommen: Stufenpyramiden, die bis in die Jungsteinzeit zurückreichen könnten. Eine weitere Parallele, die auf die westeuropäischen Ursprünge hinweist, sind die Symbolzeichen der Kanaren. Es dominieren Spiralen, und stilisierte Sonnendarstellungen sowie die von Herman Wirth weltweit aufgefundene Figur des „Adoranten“ der erstmals in der Altsteinzeit in Europa auftritt (siehe Abb. oben rechts).
Wir finden also in der Bilanz einen in einen weiblichen und männlichen Part unterteilten Monotheismus, der in enger Verbindung zur Sonnenverehrung steht, eine Ahnenverehrung in Form von Menhiren, Pyramiden und Felsgravuren sowie eine Göttin, deren Name sich bis zu indogermanischen Völkern erhalten hat. Aufgrund der anthropologischen, symbolkundlichen und kulturellen Parallelen zum westeuropäischen Megalithreich erscheint daher ein Analogieschluß vom Guanchen-glauben auf die europäische Jungsteinzeitliche Megalithreligion zulässig.
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