Trojaburg
 
 

Das Geheimnis der Heiligen Lanze

          von Dennis Krüger

 

Jerusalem im Jahre 33: Mit einem heftigen Stoß rammt der Legionär dem gekreuzigten die Lanze in die Seite. Genau zwischen die 4. und 5. Rippe bohrt sich das Eisen, Blut und Wasser treten aus dem leblosen Körper und besiegeln den Eintritt des Todes.

Südbayern 955: Hoch zu Roß führt der Regent Otto I. seine Truppen gegen den Feind. In seiner Hand nach oben gestreckt befindet sich der Speer, der den Soldaten die Zuversicht für den Sieg schenkt – und tatsächlich bricht hier auf dem Lechfeld im Angesicht der Lanze der Ungarnsturm zusammen.

Wien 1938: Schweigend hebt der Reichskanzler die Lanze aus dem Glas der gesicherten Vitrine. Im Augenblick seines größten innenpolitischen Triumphes, dem Anschluß Österreichs an das Reich, scheint die Lanze, die er 1912 erstmals in der Hofburg zu Gesicht bekam,  Symbol für die noch folgenden Triumphe, die sich schließlich 1945 in die Katastrophe wandeln: Den Zusammenbruch des Reiches.

 

Alle drei Episoden sind mehr oder weniger spekulativ, mal quellenkundlich überliefert,  mal lediglich durch die Phantasie eines Autoren angeregt. Vor allem Trevor Ravenscrofts „Die heilige Lanze“ verknüpft die christliche Reliquie phantasiereich mit dem Verlauf der Weltgeschichte, insbesondere mit  Aufstieg und Fall des 3. Reiches. Und doch ist der sogenannte „Speer des Schicksals“, die heilige Lanze des Longinus, benannt nach dem römischen Legionär Gaius Cassius „Longinus“, der ihn dem gekreuzigten Jesus in die Brust stieß, ein wirkmächtiges Symbol für die Macht und die Stärke des Reiches, des christlichen heiligen römischen Reiches. Dieser „sper gotes“, wie die Lanze auf einer kaiserlichen Inventarsliste bezeichnet wird, setzt sich aus verschiedenen Teilen zusammen: Aus der Mitte der etwa einen halben Meter ausmachenden Lanzenspitze wurde eine spitzovale Öffnung herausgestemmt, wobei offenbar das Blatt brach. Die Bruchstelle ist dreifach verkleidet, zuerst mit einem schmalen Eisenband, dann mit einem breiten Silberblech und zuletzt mit einem Goldblech. In die Öffnung ist ein Nagel mit vier Verdickungen eingelegt. Die obersten Bleche tragen Inschriften. Auf der älteren silbernen steht in Latein: „Heinrich von Gottes Gnaden der dritte römische Kaiser, Mehrer des Reiches, ließ dieses Silber herstellen zur Befestigung des Nagel des Herrn und der Lanze des heiligen Mauritius“. Auf der anderen Seite „Nagel des Herrn“. Auf dem Goldblech ist zu lesen: „Lanze und Nagel des Herrn“. 

Wer die vom „Blut des Herrn benetzte“ Lanze besaß, sollte der Legende zufolge nicht nur Macht über sein Schicksal erlangen, sondern geradezu „unbesiegbar“ sein - sogar über die Möglichkeit verfügen, die Geschicke der Weltgeschichte zu beeinflussen.

Dr. Helmut Trnek, Direktor der Wiener Kunst- und Schatzkammer, hält die Lanze für das mächtigste Herrschaftssymbol des Heiligen Römischen Reiches seit dem 9. Jahrhundert. „Ein Herrscher, der den sogenannten Schicksalsspeer besaß,“ so Trnek, „galt als unbesiegbar. Er galt als das sichtbare Zeichen, dass seine Macht von Gott gegeben, dass er der Stellvertreter Christi war. Zigtausende Gläubige pilgerten zwischen 14. und 16. Jahrhundert nach Prag und Nürnberg, um sie zu sehen. Napoleon wollte sie besitzen, Hitler ließ sie zusammen mit anderen Kunstschätzen 1938 von Wien zurück nach Nürnberg bringen.“

Und tatsächlich knüpfen sich an den Speer noch eine Reihe weiterer Episoden, in denen er seinen Trägern Erfolg bescherte, selbst in aussichtlosen Situationen. Wie 1066, während des ersten Kreuzzuges. Eingeschlossen von den Truppen Saladins harrten die Kreuzfahrer in Anticohia auf ein Wunder. Dieses ereignete sich der Überlieferung nach im Fund der heiligen Lanze durch den Mönch. Unter seiner Führung wurden die Sarazenen geschlagen, der Feldzug endete siegreich mit der Eroberung Jerusalems.

Auch das Leben Karls des Großen, der sie von Papst Leo III. erhielt, und das seiner Nachfolger soll die Lanze begünstigt haben. Dabei wird schnell klar, dass es mehr um den Glauben und die Wirkung des Symbols, als um die Authentizität der Lanze ging, von der die wenigsten Gläubigen wohl annehmen durften, dass sie Mitte des 11. Jahrhunderts zeitgleich in einer Kirche in Antiochia, in den Händen Kaiser Alexios I. in Byzanz  und im Besitz Ottos I. in Sachen zugegen gewesen sein konnte.

Denn  mindestens drei verschiedene Lanzen sind überliefert: eine im polnischen Krakau, eine in Armenien und jene in Wien. Eine Erklärung, die auch damals schon geläufig war, geht daher davon aus, dass nicht die Lanze allein, sondern gewisse Reliquien, die innerhalb verschiedener Lanzen angebracht wurden, eine besondere Macht auf den Träger entfalteten. Denn sowohl in die Longinus-Lanze der deutschen Kaiser als auch die heilige Lanze der Kreuzfahrer soll jeweils ein Nagel des Kreuzes Christi eingearbeitet worden sein. Tatsächlich hatte Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, 325 Jerusalem besucht, wo sie mehrere Fragmente des Kreuzes und insgesamt drei Nägel gefunden habe, mit denen Jesus ans Kreuz geschlagen worden sein soll. Diese Reliquien sendete Helena an verschiedene Orte.

Obgleich eine Lanze, die in der ersten hälfte des 13. Jahrhunderts aus Byzanz nach Frankreich gelangte seit der Französischen Revolution als verschollen gilt, sind heute immer noch drei Lanzen bekannt, welche den anspruch erheben, mit dem Blut Christi in Berührung gekommen zu sein: Eine befindet sich heute im polnischen Krakau, eine in Armenien und - die wohl bekannteste - in der Wiener Hofburg. Die Lanze im Krakauer Domschatz ist indes eine Replik der Wiener Lanze, die Otto III. im Jahr 1000 an Herzog Boleslav von Polen übergeben hatte. Die armenische Lanze soll dagegen der Apostel Thaddäus ursprünglich nach Eriwan gebracht haben. Ihre Bedceutung reicht jedoch nicht an die Wiener Lanze heran, die erstmals um das Jahr 800 in Erscheinung trat: „Der Speer ist ein Geschenk von Papst Leo III. an Karl den Großen. Woher der Papst die Lanze hatte, ist nicht überliefert – womöglich ließ er sie sogar eigens zu diesem Zweck anfertigen. Schon im 9. Jahrhundert wurde ihr eine entscheidende Rolle bei der Vertreibung der Ungarn aus dem italienischen Modena zugeschrieben.“ www.pm-magazin.de/a/der-speer-des-schicksals)

Als Lanze der deutschen Herrscher wurde sie schließlich sogar in die Reihe der Reichsinsignien aufgenommen – eingehüllt in das Reichskreuz der deutschen Kaiser.

1429 bestimmte Kaiser Sigismund schließlich die alte Reichsstadt Nürnberg zum „ewigen Aufenthaltsort“ der Lanze – von hier wurde sie vor den Händen Napoleons, der sich ihrer bemächtigen wollte, nach Wien ausgelagert. Bis 1938, genauer bis zum Anschluß Österreichs an das deutsche Reich,  dauerte das Exil in Wien. Hitler ließ die Lanze wieder nach Nürnberg bringen, wohl weniger um ihre Wirkung für die Reichsparteitage nutzbar zu machen, als sie wieder an ihre alte Heimstatt zu bringen.

Obgleich es immer wieder Spekulationen um eine besondere Bedeutung der Lanze für Hitler oder für Himmler gibt, existieren keine Hinweise auf ein gesteigertes Interesse irgendwelcher NSDAP-Oberen an der Lanze: Weder ein Forschungsauftrag Himmlers an sein Wissenschaftsinstitut Ahnenerbe, noch eine Erwähnung in einer Schrift der führenden Theoretiker des Reiches Richard W. Darré , Alfred Rosenberg oder Adolf Hitler selbst.

Nachweisbar ist zumindest die Vorlage der Lanze für Pläne, die Wewelsburg zum Zentrum des Reiches auszubauen. Für das nach Heinrich I. benannte Studierzimmer, eines von zwölf Räumen innerhalb der Wewelsburg, in denen die obersten SS-Führer jeweils mit der Geschichte des Deutschen Reiches vertraut werden sollten, soll es eine Nachbildung der Lanze gegeben haben – Beweise für diese Überlieferung Ravenscrofts gibt es allerdings nicht.

So dürfte die Kernthese des Autoren, dass Hitlers Aufstieg mit der Bemächtigung der Lanze begann und mit ihrem Verlust endete – wenige Stunden nach dem Fund der Lanze durch Gis soll gemäß Ravenscroft Hitlers Selbstmord erfolgt sein – nichts weiter als reine Fiktion sein. Ebenso die These, derzufolge wahlweise die Nationalsozialisten oder US-Militärs  eine Kopie der Lanze anfertigen ließen, die in die Wiener Hofburg verbracht wurde, während das Original irgendwo – vielleicht sogar in der mythischen deutschen Basis „Neuschwabenland“ - verborgen blieb.

Neuere Untersuchungen indes haben ergeben, dass die Lanze nicht aus der Zeit Jesu sondern aus dem frühen Mittelalter stammt – sowohl die Form der typisch karolingischen Flügellanze, als auch Röntgenaufnahmen, auf denen Schlackeeinschlüsse erscheinen, sind  typisch für frühmittelalterliche Schmiedetechnik, wie Mag. Mathias Mehofer vom Interdisziplinären Forschungsinstitut für Archäologie der Universität Wien (VIAS). erläuterte. Gemeinsam mit seinen Kolleginnen Mag. Dr. Birgit Bühler und Verena Leusch untersuchte der Archäometallurge die technologischen Hintergründe der Entstehung und weitere Verarbeitung der Heiligen Lanze. Trotz der aufwendigen Untersuchungen bleiben Restzweifel, da das Metall selbst nicht datiert werden kann, zudem einzelne, möglicherweise ältere Teile, die in die Lanze eingearbeitet worden sein könnten, nicht berücksichtigt wurden.

Seit ihrer Verbringung in die Wiener Hofburg 1946 endet vorerst zumindest die Geschichte der Lanze, die durch ihren Stich in die Brust Jesu fast 2000 Jahre zuvor begonnen hatte und es heute im Horrorthriller „Constantine“ in der Archäologie-Saga „Indiana Jones“ oder in Lara Croft in die Drehbücher der Filmmetropolen geschafft hat - zumindest als  judäo-christliche Version wie sie bei Johannes 19,34 zu finden ist. 

Denn der eigentliche Ursprung der Sage vom heiligen Speer reicht viel weiter zurück:

Bereits in der germanischen Überlieferung existieren eine Reihe von Speerträgern: Heimdall, Tiu und schließlich Odin/ Wotan, der den wohl bekanntesten germanischen Speer, Gungnir, trägt.

Auch in der keltischen Überlieferung finden sich zahlreiche Speere: Etwa in der Sage Peredur ab Evrawk, in welcher der Held, gleichsam dem Parzifal, aufgrund des Versäumnisses einer Frage so lange verflucht bleibt, bis ihm durch Tötung übernatürlicher Weiber die Gesundheit, das Reich und den Frieden des Königs wieder herzustellen. In den altirischen Legenden „Musca Ullad“ und „Da Darga“ erscheint die Lanze gemeinsam mit dem Kessel als mächtige, todbringende Waffe.

 

Die Verbreitung der Speermotive bei zahlreichen, insbesondere indogermanischen Völkern hat eine einfache Erklärung:

Der Speer symbolisierte ursprünglich das phallische Element, das mit seinem Widerpart, dem Gefäß, die Geburt symbolisiert. Das spendende und empfangene Element vereinigen sich zur Spendung des neuen Lebens. In der indoarischen Tradition tritt dem erstmals das Element der Macht hinzu: Der Speerträger ist der Machthaber, der Regent. 

Der Speer, gleichbedeutend dem Blitz, später verkörpert auch durch das Königszepter, entspricht der transzendenten Männlichkeit, wie der italienische Philosoph Julius Evola betont. Beides wiederum steht in Verbindung zur Weltachse und damit, so Evola weiter, mit der polaren Tradition.

So ist auch die Herkunft des Mythos von der Lanze als Kraftspender und Königssymbols, wie so viele andere Symbole, nordischer Herkunft:

„Wenn in der Graldichtung meist bloß ein wunderbares Gefäß hervortritt, ... wenn  nicht selten auch noch eine Waffe, die Lanze, hinzutritt - dann paßt auch dieses Verhältnis vortrefflich zu der alt-arischen Sage und dem alt-arischen Kult, wo bisweilen Sonne und Mond nebeneinander erscheinen, in der Regel aber doch nur von einem der beiden himmlischen Gefäße erzählt wird; während als drittes die Waffe des Donnergottes - Donnerkeil, Donnerhammer, Pfeil, auch Lanze (im Mahäbhärata) - hinzukommt, in der Regel als das machtvolle Mittel, das gesuchte Kleinod zu erringen, bisweilen aber selbst Gegenstand des Suchens und Ringens“, wie bereits Leopold von Schröder bemerkte.

 

Literatur:

Eschenbach, Wolfram von: Parsifal.

Lange, Hans-Jürgen:

Trevor Ravenscrofts „Die heilige Lanze

Schröder, Leopold von: Die Sage vom heiligen gral

P.M. Magazin

www.dieuniversitaet-online.at/beitraege/news/die-heilige-lanze-zwischen-wissenschaft-und-legende/543/neste/75.html

 

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