Die Nordpolarhypothese im Lichte der deutschen Mythologie.
In den vorhergehenden Kapiteln haben wir das Beweismaterial des indischen Forschers dem Leser mit tunlichster Knappheit vor Augen geführt. Nimmt man, beeinflusst von der Tilakschen Polarhypothese, eine deutsche Mythologie
zur Hand und prüft sie im Lichte der neuen Lehre, so findet man gar mancherlei,
was sie durchaus zu bekräftigen scheint. Ich schreibe im Folgenden
verschiedene Stellen des Werkes „Deutsche Mythologie“ von Paul Lierrmann (Leipzig 1898), aus und überlasse dem Leser die Entscheidung, inwieweit diese
Stellen durch die Nordpolarhypothese verständlicher werden.
So heisst es S. 221: „Unter dem heitern Himmel südlicher Länder war die Vorstellung eines leuchtenden Himmelsgottes und seiner lichten Söhne entstanden, unter dem grauen Himmel Deutschlands musste diese Gestalt zurücktreten.
Der trübe, germanische Himmel erzeugte das Bild eines Mannes, der den breiten Hut tief über das Gesicht zieht, den Gott Wodan.“
Dass die Germanen aus südlicheren Ländern gekommen sein sollten, dürfte heute für ausgeschlossen gelten. Sie kamen fast zweifellos aus dem Norden. Woher aber hatten sie dann die Vorstellung eines leuchtenden Himmelsgottes, der unter Germa-niens grauem Himmel dem Gotte Wodan weichen musste? Sollte diese Vorstellung nicht aus der nordpolaren, durch ein mildes Klima ausgezeichneten Urheimat stammen?
Und sollte Wodan nicht bereits mit der Vereisung entstanden sein?
„Die Deutschen rechneten in ältester Zeit nicht nach Tagen, sondern nach Nächten, vgl. Weihnacht, Fastnacht, die 12 Nächte, d. h. die 12 Tage von Weihnachten bis zum 6. Januar. Ebenso galt der Winter als der Beginn der Zeit überhaupt. Diese Rechnung nach Nächten und Wintern hat mythologische
Grundlage. Nach uralter, tiefer Auffassung ist Finsternis und Kälte die Keimzeit
des lichten, warmen Lebens.“
Sollte nicht vielmehr die Rechnung nach Nächten und Wintern aus der Nordpolarzeit stammen, wo die Winternacht die schlimmste und eindrucksvollste
Zeit des Jahres war? Und sollten nicht die 12 Nächte nach Weihnachten eben die Dauer der Winternacht für die Vorfahren der Germanen verraten?
„Mütterlichen Schutzgottheiten war bei den Angelsachsen die Zeit der Zwölften geweiht, die von Weihnachten bis Dreikönig fällt; „Nacht der Mütter“
(modra niht) hiess man sie und glaubte, dass die Seelen verstorbener, einflussreicher, weiser Frauen segnend durch die Lande zogen.“
Dieser Mütterkult soll von Frankreich hergekommen und nur in Westdeutschland
aufgenommen worden sein. Die „Nacht der Mütter“ erinnert an die „Nacht der Götter“ bei den vedischen Indern, die auch zusammenfiel mit dem „Väterweg“, der wiederum
an das Umherziehen der toten Seelen zur Zeit der Wintersonnenwende
gemahnt.
„In die indogermanische Urzeit reicht die Vorstellung des Weltalls als eines ewig grünen Baumes zurück, mit einer Quelle am Fusse. Dieser mythische Baum hatte seine Abbilder im Kultus. Auf Bergen und Höhen, wo heilige Bäume standen, flössen heilige Brunnen. Von der Irmensul, die Karl der Grosse 772 zerstörte, heisst es ausdrücklich, dass sie „eine allgemeine Säule war, die gleichsam das All trägt“, und sie bestand aus einem unter freiem Himmel in die Höhe gerichteten, in die Erde eingegrabenen Baumstamme von bedeutender Grösse.“
Die Erklärung, die Herrmann dazu gibt, ist wenig ansprechend:
„Als die Indogermanen noch unter Bäumen wohnten und der einzelne Baum noch zur einfachen Hütte hergerichtet wurde, musste sich ihnen der Gedanke aufdrängen, dass die ganze grosse Welt über ihnen auch eine grosse Hütte, ein grosses Gebäude sei; das ist: ein wunderbar grosser und sich mächtig ausbreitender Baum.“ Nein, wenn die Irmensul eine allgemeine Säule war, die gleichsam das All trug, so dürfen wir in ihr die Weltachse erblicken, um die sich, zumal am Nordpol in langer Winternacht wunderbar zu beobachten, das Sternenheer dreht. Auch kann sehr wohl die Weltachse mit dem Fixsternhimmel den Vergleich mit einem Baume erregen, dessen Laubkrone das Sterngewölbe
ist. Schon Warren deutet, indem er sich auf Grimm beruft, die Irmensäule als Weltachse. Freilich kann ein Volk auch in niederen Breiten zur Erkenntnis einer Weltachse gelangen. Deshalb ist ein deutlicherer Hinweis auf nordpolare
Herkunft darin zu erblicken, dass, wenn auch das angelsächsische Gebet
stehend, das Gesicht gegen Osten gesprochen wurde, doch andrerseits die betenden und opfernden Deutschen auch gen Norden schauten; ja dies scheint überwiegend der Fall gewesen zu sein. Nach dem Norden wurde der Wohnsitz des Teufels verlegt, und die Neubekehrten mussten mit gerunzelter Stirn und zorniger Geberde, nordwärts gerichtet, dem alten Glauben entsagen.
Sollte nicht in dieser Hinkehrung nach der Gegend der Urheimat auch eine Erinnerung an die Urheimat zu erblicken sein?
„Die Sonnenwende im Winter war, wie die im Sommer, eine hochheilige Zeit der Germanen und erhielt ihre Bedeutung namentlich dadurch, dass von hier das Aufwachen des erstorbenen Naturlebens beginnt. Die Zeit der Zwölften, der Unternächte, wie sie im Vogtländischen heissen, weil sie zwischen Weihnachten und Epiphanias liegen, ist auch die Zeit, wo die Tage wieder länger werden und die Hoffnung des kommenden Sommers, seiner Sonne und der langen hellen Tage wieder wach wird, die frohe Zeit des wiedergeborenen Lichtes. Wihen Nahten, d. h. in den heiligen (12) Tagen war das Fest der Wiedergeburt des Lichtgottes, der mutmasslich den Beinamen Juls hatte, d. h. neu, jung, neugeboren. Es ist möglich, dass auch das nordische, englische und niederdeutsche Julfest damit zusammenhängt, und dass Julfest eine altgermanische Benennung war. Andre Erklärer stellen zu Julfest angelsächsisch hveöl, englisch wheel, friesisch yule, altnordisch hvel das Rad und denken an die Sonnenräder.
Denn in der Tat wurden zur Zeit der Wintersonnenwende Feuer angezündet, die, wie alle Festfeuer, Bezug zur Sonne hatten; das beweisen schon die Räder, die Sinnbilder der Sonne. Dass bei diesem wichtigen Opferfeste Umzüge, Verkleidungen, Gesang und Spiel nicht fehlten, zeigt der Brief des Bonifacius an Papst Zacharias. Für die angelsächsische Kirche war bereits im 6. Jahrhundert bestimmt: „Wenn jemand an den Kalenden des Januar sich in eine Hirschhaut oder Kalbshaut steckt, d. h. als wildes Tier verkleidet und sich in die Felle von Haustieren vermummt und Tierköpfe aufsetzt — wer sich so in Tiergestalt verwandelt, der soll 3 Jahre Busse tun, weil das dämonisch ist.“ Im 11. Jahrhundert erzählt Burchard von Worms, dass man sich in der Neujahrsnacht, mit dem Schwert umgürtet, auf das Dach des Hauses gesetzt habe, um zu ergründen, was der Schoss der Zukunft für das neue Jahr Gutes oder Schlimmes berge.“
Sollte diese Dachsitzung nicht eine missverstandene Überlieferung gewesen sein, wonach der unsichtbaren unter den Horizont für längere Zeit hinabgetauchten Sonne durch die Schwertgürtung des auf dem Dache sitzenden Mannes Hilfe angeboten wurde? Und möchte nicht die Sitte der Verkleidungen und Vermummungen eine Erinnerung an die von schwarzer Nacht für lange eingehüllte Polarsonne sein? Übrigens haben auch hervorragende
Forscher sich das Fest der Wintersonnenwende, die bei uns doch wenig Auffallendes an sich hat, nicht recht erklären können. Für nordpolare Verhältnisse wird es um vieles verständlicher.
„Frommer Glaube wollte dem Frühlings- und Sonnengott unmittelbar zu Hilfe kommen. Wenn um die Zeit der Tag- und Nachtgleiche die deutsche Feier des Frühlingsanfangs stattfand, schleuderte man feurige Geschosse in die Luft, um die feindlichen Gewalten abzuwehren, die die Macht der segensreichen
Sonne hemmen wollten. Holzscheiben, die in der Mitte durchlöchert und an den Rändern rotglühend gemacht waren und so ein Bild des aufsteigenden Gestirnes darstellten, wurden an Stöcken in die dunkle Luft geworfen. Ihr Emporschnellen vertrieb die Wetterdämonen, half der Sonne und unterstützte das Wachstum. .... Von besonderer Bedeutung waren die Frühlingsfeuer und die dabei geschlagenen Scheiben noch für Liebespaare und junge Eheleute. Durch die lodernden Flammen musste der junge Bursch mit der Geliebten springen. Das Feuer war dem Himmelsgotte heilig, der durch die Waberlohe der Morgenröte zum bräutlichen Lager eilt; aus dem Flammenwalle wird die Walküre von Siegfried geholt.“ Derartige Bräuche werden meines Erachtens um vieles begreiflicher, wenn man sie aus Verhältnissen herleitet, wie sie am Nordpol walteten. Der Sonne, die nach langem Verweilen unter dem Horizonte wieder durch die Morgenröte ihr Kommen meldete, wollte man freudigen Herzens helfen, man ersehnte sie ja seit langem.
Die wabernde Lohe dürfte nicht sowohl die rasch vergängliche tägliche Morgenröte als vielmehr die tagelang anhaltende Dämmerungserscheinung nach langer, banger Winternacht sein.
„Durch einen glücklichen Zufall ist uns ein Hymnus gerettet, mit dem die heidnischen Goten in der Zeit der Zwölfnächte den wiedergeborenen Lichtgott
verehrten. Das Lied ist in lateinischer Sprache überliefert, beruht aber unmittelbar auf einem gotischen Texte. Die Übersetzung rührt von Theoderich
dem Grossen oder einem seiner Nachfolger her, gehört also dem 6. Jahrhundert
an und ward für den byzantinischen Hof hergestellt. Zu Neujahr pflegte am Hofe zu Byzanz ein grosses Festmahl gefeiert zu werden.
Dabei wurden zur Belustigung der kaiserlichen Familie und ihrer Gäste allerlei Spiele aufgeführt, darunter folgendes: Die Auftretenden stehen, in zwei Hälften geteilt, an den beiden Eingängen des grossen Saales. Jede Schar hat ihre Flötenspieler bei sich und wird von einem Führer (magister) geleitet. Sie tragen Tierfelle, deren rauhe Seite nach aussen gekehrt ist; ihr Gesicht ist durch eine Larve schreckhaft verhüllt. Es liegt nahe, an den Knecht Ruprecht und den kinderschreckenden Niklas oder an den Julbock und die Julgeiss zu denken. Die Schilde mit den Stecken schlagend ziehen sie durch den Saal mit dem Rufe Tul! Tul!, vereinigen sich dann zu zwei parallelen Kreisen, lösen und schliessen dreimal diese Aufstellung und singen endlich, während sie sich der Eingangstür zuwenden, diesen Hymnus, das sogenannte Gotthikon (Gotenlied):
„Freue dich der schönen Vereinigung (zu gemeinsamer Festfeier)!
Freuet euch der Tage der schönen Zeit im Wettstreit, heia!
Zu froher Stunde Trompetenschall erhebend!
Mit schöner Lust zuschauend!
Siehe, gerettet ist, Nana, der Qott, der Gott, heia!
Am festlichen Tage, Nana, juble in unendlichen Freudenrufen,
Jubel lassest du hören, Nana, Jubel lassest du hören!
Du o Tul, schön vom ersten Tage an, sollst siegen, Tul und Nana!
Eber, Eber, kehre du nun in vollzähliger Schar zurück,
So komme zu uns, vom Tode erstanden!“
Das Lied, das je zwei in Felle gehüllte, maskierte Gestalten an der Spitze zweier Halbchöre singen, mischt gotische und römische Bestandteile. Merkwürdiger
ist, dass in dem Liede jede Erzählung fehlt, die doch sonst regelmässig vorkommt. Aber ein germanischer Weihnachtsbrauch, bei dem zwei in Tierfelle und Masken vermummte Tul (= Jul) und Iber riefen und Verse sprachen, ist gewiss in ein nach dem byzantinischen Hofzeremoniell gemodeltes
Lied gebracht. Die Sonne siegt, die Nebel fallen: darum soll Nana Jubel
erleben. Sie ist vielleicht die Gemahlin des Siegers, die dem Streite des Sommers und Winters zugeschaut hat. Der Name ist dem altindschen nana „Mutter“ gleichzusetzen und entspricht der „Männin“ Nerthus, der „Geliebten“
Frija. Der Gott wird mit „Eber“ angerufen; denn der goldborstige Eber ist ein Bild des Sonnengottes.“
In dem oben mitgeteilten Hymnus ist die Rede vom Sonnengott,
der „gerettet“ und „vom Tode auferstanden“ genannt wird. Kann eine solche Kennzeichnung wohl mit Fug auf die Sonne der Wintersonnenwende unsrer Breiten bezogen werden? Passt sie nicht bei weitem besser auf die tage- oder wochenlang unter dem Horizont verbliebene Polarsonne? Nachdem man aber einmal am Nordpol die Mitte der Zeit, in welcher die Sonne unter dem Horizont
war, gefeiert hatte, weil jetzt die Hälfte der langen Finsternis vorüber war, behielt man den Brauch auch in solchen Breiten bei, in denen die Sonne den ganzen Winter über tags sichtbar wird.
Es wird die Aufgabe weiterer Untersuchungen sein, die deutsche Mythologie
und die alten Sitten und Gebräuche im Lichte der Nordpolarhypothese noch eingehender zu prüfen. Wie mir scheint, sprechen aber schon die hier mitgeteilten Stellen entschieden für die nordpolare Herkunft der Indogermanen.
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